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BonBon

Memoriale der Kindheit
Zum Werk von Uta Weber

In seinen 1934 in der „Green Box“ veröffentlichten Notizen beschreibt Marcel Duchamp als Grundgedanken aller Readymades „die Idee der Wechselwirkung zwischen Kunst und Alltagsleben“. Mit ihr operieren auch die Objekte von Uta Weber. Sie gehören in der Terminologie von Duchamp zur Klasse der „rectified readymades“. Das heißt, den von ihr geschaffenen Werken liegen Dinge des Alltags zugrunde, aber sie wurden von der Künstlerin nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt in den Kunstkontext eingeführt, sondern „verbessert“ (engl.: rectified).

Die Dinge des Alltags, die Weber als Modelle für ihre Objekte benutzt, sind Süßigkeiten, die wir alle aus Kindertagen kennen. Weber behält ihre originale Form bei, verändert aber ihr Format und ihr Material und manchmal auch ihre Farbe. Durch Vergrößerung werden sie zu Plastiken, die sich im Raum oder an der Wand entfalten. Den Eindruck stützt Weber durch Vereinzelung, wenn sie Campinos und Bonbons als Solitäre ausstellt. Aber auch durch ornamentale Anordnungen, wenn sie aus ihren Liebesperlen Halbkugeln formt, ihre Toffifees im strengen Kreis arrangiert und ihre Kaugummis und Smarties in zugleich informellen und strukturierten Ensembles zusammenbringt.

Stets scheint hinter den von Süßigkeiten angeregten Plastiken Uta Webers in der einen oder anderen Weise das Vokabular des Konstruktivismus auf. Allerdings ohne seinen ideologischen Ernst und die ihm inhärente Sehnsucht nach ultimativen ästhetischen Formen und Formeln, mit denen er die Kunst des letzten Jahrhunderts ganz wesentlich mitbestimmt hat und ins Leben der Menschen eingreifen wollte. In spielerischer Manier wird er in Webers Werken zugleich zitiert und in seinem umfassenden Anspruch ad absurdum geführt.

Die subtile Kritik ist indes nur ein Aspekt der Objekte Webers. Ihre andere, weitaus wichtigere Seite ist der zärtliche Hymnus. Die Werke der Künstlerin beschwören wie das berühmte Gedicht „Das Karussel“ von Rainer Maria Rilke „ein Land, das lange zögert, eh es untergeht.“  Es ist das Reich der Kindheit, in dem die Künstlerin als homo ludens das spielende Kind in sich wieder findet, das sie nie vergessen hat. Webers Plastiken rufen es uns umso eindringlicher ins Gedächtnis, weil diese in ihren Größenverhältnissen wie personalisiert erscheinen. Sie sind viel weniger Objekte als magisch verwandelte Subjekte. Und als solche erinnern sie uns an eine Zeit, in der uns die Welt wie ein Zauberreich erschien, das es jeden Tag neu zu entdecken galt.

Wie im Gedicht von Rilke die Dinge selbst sprechen unter Verzicht auf die Äußerungen eines lyrischen Ichs – Es treten auf: „die bunten Pferde“,  „ein böser, roter Löwe“ und „dann und wann ein weißer Elefant“ – so zieht uns auch Weber ohne persönlichen Kommentar in die Dingwelt ihrer modifizierten Readymades. Nicht die Künstlerin spricht, sondern die Smarties, Liebesperlen und Campinos. Und doch ist Uta Weber in ihrem Werk nicht weniger anwesend als Rilke in seinem Gedicht. Durch ebenso konsequente wie diskrete Gestaltung. Durch sie werden ihre Plastiken zu Memorialen, die uns auch an Marcel Proust erinnern und an seine Suche nach der Kindheit, deren Duft und Geschmack der Dichter der verlorenen Zeit im Genuss der Madeleines wieder fand. 

Michael Stoeber

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